Cover von Schwalbenschrift wird in neuem Tab geöffnet

Schwalbenschrift

ein Leben von Wien aus
Verfasser: Suche nach diesem Verfasser Helbich, Ilse
Verfasserangabe: Ilse Helbich
Medienkennzeichen: 03
Jahr: 2003
Verlag: Bottighofen, Verl. "Die Libelle"
Mediengruppe: Buch
verfügbar

Exemplare

BarcodeStandorteStatusVorbestellungenFrist
Barcode: 40426001246540 Standorte: 03 HEL / 1927 Status: Verfügbar Vorbestellungen: 0 Frist:

Inhalt

Ein spätes befreiendes Debut/ Ilse Helbichs "Schwalbenschrift" Es ist ihr erstes Buch, das die 1923 geborene Publizistin Ilse Helbich mit Schwalbenschrift" vorlegt, und das verlangt Respekt. Umso mehr, als dieses Buch, unverstellt an der eigenen Lebensgeschichte entlanggeschrieben, deutlich macht, daß Erinnern nicht nur ungerufen kommt, sondern Arbeit ist, eine Anstrengung. So sind es denn auch nur "Splitterbilder", die am Anfang des Textes stehen, wenn die kindliche Wahrnehmung erinnert werden und zur Sprache kommen soll, eine, die prägend ist, weil sie noch vor der Fähigkeit zur rationalen Erklärung und vor jeder Begrifflichkeit liegt, mit der wir uns später behelfen und entlasten. "Splitterbilder" - die Autorin weiß um das Nachgetragene von Erinnerung, und sie weiß um das Uneinholbare, die Lücken im Gedächtnis: "Dazwischen nichts". Der Verzicht auf die Ich-Form, das konsequente Erzählen in der 3. Person schafft nicht nur die erzählerische Distanz, die das Dargestellte verlangt, sondern vermittelt auch, dass Erinnern sich immer von den Rändern des Vergessens her profiliert. Und von den Rändern des Sagbaren. Sagbar ist wenig in dieser Kindheit im Wien der 20er Jahre, die bestimmt wird von einer düsteren, sprachlosen Atmosphäre und dem Regelwerk großbürgerlicher Ordnung. Ein Döblinger Herrenhaus in strengem Jugendstil, mit Dienstmädchen und Chauffeur, Klavierspiel und Herrenzimmer. Der Vater ist Besitzer einer Baufirma, vom Großvater vererbt, der sich hochgearbeitet hat vom Häuslersohn aus dem Böhmerwald, bis er es weit gebracht hat, zu einem Jagdhaus sogar, das er dem Kaiser verehrt. Den Aufstieg verdankt er einem starren Pflichtprinzip, er wird es dem Sohn vererben, und auch der wird es weitergeben an die nächste Generation. Entsprechend abwesend ist für das Mädchen der Vater, greifbar nur in seiner Strenge, dem Grundsatz der Pflichterfüllung. Unzugänglich auch die Mutter, "wie eine Fremde in ihrem eigenen Haus", präsent nur in wenigen Momenten, wenn sie zum Tanzen geht am Eislaufplatz in der Iglaseegasse, oder wenn ihre "Herren" zu Besuch kommen. Ansonsten ist sie in einer eigenen Welt, bei ihrer ersten Liebe vielleicht, einem Offizier, der im Ersten Weltkrieg gefallen ist und dessen Verlobungsring sie immer noch trägt. Einen Bruder gibt es noch, doch auch der bleibt für das Mädchen konturlos, eine Randfigur, die erst als abwesende Bedeutung erhält, wenn er 1944 einrücken muß als Luftwaffenhelfer, da ist er 15. Aus dem Krieg kommt er zurück mit Lungentuberkulose, einige Jahre später stirbt er daran. Das sind die dunklen Erinnerungsbilder, mehr Atmosphäre denn Bilder. Die "hellen" Momente dagegen sind nur zu haben, wenn das Mädchen allein ist, wenn es ausscheren kann aus der Fremdheit des Elternhauses, zu den Büchern auf dem Dachboden des Großvaters, oder in den Stall, der an die Tischlerei angeschlossen ist. Da schafft sie ihre eigene Welt im Kopf, setzt die Phantasie gegen die Realität. Bis die Realität größer wird als die Enge daheim, bis "etwas Neues in der Luft" liegt, dem das Mädchen sich nicht entziehen kann. "Am 13. März 1938 ist sie mit auf der Straße", ist vorerst glücklich dabei und mit diesem Glück nicht allein. "Wie immer wird bei ihnen über mehr als das Alltägliche nicht gesprochen. Aber die Stimmung scheint so, als ob die Großfamilie mit Sympathie auf Deutschland mit seinem Hitler und auf die Nazis in Österreich schaute." Und so singen die Kinder, während sie in der katholischen Schule das "Dollfuß-Lied" vortragen müssen, beim Familienurlaub an der Adria den Verwandten die Lieder vor, die das Dienstmädchen Mizzi ihnen beigebracht hat. "Und wenn das Judenblut vom Messer spritzt, hei da geht's noch mal so gut." Nur ein kleines ungutes Gefühl bleibt zurück, als dem Mädchen bewußt wird, daß es die Lieder singt, um von den Eltern beachtet zu werden. Das "dunkle Gefühl" bleibt, und so läßt sie, als sie BDM-Führerin werden soll, den Fragebogen verschwinden, verweigert sich Befehlen, wird aus dem BDM ausgeschlossen, findet stattdessen Gemeinschaft bei den Nazi-Gegnern in der Schule. Und schließlich im Studium, das sie 1941 - nach dem Reichsarbeitsdienst und neben der Arbeit im "kriegswichtig" gewordenen Betrieb des Vaters - beginnt und das ihr ein "in der Gefährdung immer lebendigeres Leben" ermöglicht, und Zugang zum "intellektuellen Wien". Mit der "Welt des Geschriebenen und Gedachten" tut sich für die junge Frau eine Freiheit auf, die verfügbar bleibt, gegen die Anmaßungen, die ihr von außen aufgezwungen sind. Wie sie ihren Hölderlin wiederfindet im ausgebombten Elternhaus, das wird ebenso einprägsam erinnert wie die Erfahrung des Luftkriegs, der letzten Kriegstage, der Vergewaltigung durch russische Soldaten, des Hungerwinters 1945. "Sie redet mit niemandem über diese Geschichte (…), über ihre Erlebnisse in der Hitlerzeit und im Krieg spricht sie auch später kaum, wie sie überhaupt erst im Alter lernen wird, von sich selbst unverstellt zu reden." Das Schreiben, das Lesen, die immer wieder aufgesuchte spirituelle Erfahrung bleiben denn auch einzige und stille Ausbruchsmöglichkeit, "von ihrem anderen Leben streng getrennt", vom eingeschlossenen Unglück einer 30-jährigen Ehe, die dann folgt, eine Wiederholung der Fremdheit und Leere im Elternhaus, so leidenschaftslos, daß sie kaum erzählenswert ist, 20 Seiten braucht es dafür im Buch. Soweit die großen Linien, das chronologische Ordnungsprinzip, an dem der Text, den Konventionen autobiographischen Erzählens folgend, sich entlangschreibt. Es ist nichts Neues, das hier erzählt wird, und gerade damit überzeugt das Buch. Nicht in der Einzigartigkeit des Erzählten, sondern im Nachvollzug des Typischen, im Exemplarischen liegt das Verstörende. Daß es uns die Muster bürgerlicher, "weiblicher", österreichischer Sozialisation und Biographien vorführt, aber auch die Nischen und Lücken darin. Daß es vor diesem Hintergrund die Verführungskraft des Nationalsozialismus hervortreten und deutlich werden läßt, wie das Außerordentliche zur Norm und Normalität werden konnte, und schließlich zum Verschwiegenen, Verdrängten. Dabei ist es weniger der Hauptstrom, der interessiert, sondern die Intermezzi, die Detailaufnahmen, dann wieder das Ausgesparte oder gerade nur Angedeutete. Die Beschreibungen Wiener Lebens und Topographien; die Andeutung von Lebensläufen der Großfamilie mit ihren Wurzeln in der Monarchie; die Lieder der Dienstmädchen und die Geschichten des Chauffeurs… Die eindringlichsten Passagen finden sich dort, wo in kleinen, scharf konturierten Momentaufnahmen sich die historische Konstellation verdichtet: Wenn 1934 die 11-jährige vom Fenster aus der Beschießung des Karl-Marx-Hofs zuschaut und nicht weiß, auf welche Seite es sich stellen soll. Oder wenn 1938 beim Familienurlaub die jüdische "Tante" plötzlich abseits sitzt - da erschließt sich in einem einzigen Bild die Atmosphäre der 30er Jahre, da fallen Geschichten und Geschichte zusammen. Und da vermittelt sich schließlich auch die "Ironie der Geschichte": wenn der Vater ausgerechnet im Krieg glücklich scheint, weil er nun "praktisch" sein und heraustreten kann aus dem Schatten des Großvaters. Oder wenn die Erzählerin nach dem Krieg einen amerikanischen Studenten kennenlernt, der ihr sagt, daß er Wien gut kenne: "I bombed it twice." Wie im kleinen biographischen Moment die soziale Überformung ablesbar wird, wie am einzelnen Leben die "große" Geschichte mitschreibt, das vermittelt dieses Buch eingängig, und es tut das mit einigem Sinn für Lakonie, in knappem Stil und schmuckloser Sprache, die auskommt ohne Gesten der Betroffenheit. Daß die Beiläufigkeit, mit der erzählt wird, auf den letzten Seiten dann ins versöhnlich Pathetische kippt oder daß der Titel nicht eben glücklich gewählt ist - das mag verärgern, schmälert aber kaum den Wert dieses Buchs. Die Daten kennen wir aus den Geschichtsbüchern ohnehin. Wie sie "belebt" wurden, das darzustellen braucht es eben immer noch die Literatur. Und also Bücher wie dieses.

Details

Verfasser: Suche nach diesem Verfasser Helbich, Ilse
Verfasserangabe: Ilse Helbich
Medienkennzeichen: 03
Jahr: 2003
Verlag: Bottighofen, Verl. "Die Libelle"
opens in new tab
Systematik: Suche nach dieser Systematik 03
Interessenkreis: Suche nach diesem Interessenskreis Roman
ISBN: 3-909081-96-7
Beschreibung: 1. Aufl., 240 S.
Schlagwörter: Erinnerungen; Familie
Suche nach dieser Beteiligten Person
Mediengruppe: Buch